Giglia Gantenbein verbrachte zwischen Dezember 2023 und März 2024 knapp drei Monate als Volontärin bei der Regenboog India Foundation und unterstützte als Pflegefachfrau das Team der Mobilen Klinik. Im folgenden Essay erzählt sie von einer speziellen Bekanntschaft, die sie in den Projekten machte.
Ich stehe vor einem weissen, leeren Blatt. Mein fast dreimonatiger Aufenthalt in Indien ist schon fast wieder drei Monate her. Wo soll ich mit dem Schreiben beginnen? Möchte ich über die Mobile Medical Klinik (MMC) und das unglaublich herzliche Team schreiben, mit welchem ich als Pflegefachfrau unterwegs sein durfte? Möchte ich über Patient:innen und ihre Geschichten schreiben und aufzeigen, wie sie vom MMC-Team unterstützt werden? Möchte ich über den Ausflug mit allen Kids der Abendschulen schreiben und von den strahlenden Gesichtern der Buben und Mädchen erzählen, die zum allerersten Mal einen Ausflug erlebten? Oder möchte ich über das gesamte Regenboog-Team schreiben und davon, wie sie mit ihrer Arbeit unzähligen Menschen helfen und unglaubliche Arbeit leisten?
Ihr seht, ich könnte euch viele interessante und bewegende Geschichten erzählen, und doch gibt es eine Beobachtung, die mir besonders erwähnenswert scheint. Und zwar ist es die Rolle, die das Regenboog-Team zusätzlich zu den Projekten für die Menschen vor Ort spielt. Auf den ersten Blick scheinen es ganz kleine, nebensächliche Dinge zu sein, doch letztendlich ist die Wirkung für die einzelnen Menschen vor Ort durchaus bedeutsam. Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, euch die Geschichte von Pavithra und Indrakumar näherzubringen.
Pavithra ist 13, ihr Bruder Indrakumar 11 Jahre alt. Sie leben in einem ganz kleinen, sehr einfachen blauen Backsteinhaus neben dem Bürogebäude der Regenboog India Foundation. In meiner ersten Woche in Indien wurde ihr Vater im Feld tot aufgefunden.
Das Regenboog-Team erzählte mir, dass er oft alkoholisiert nach Hause gekommen war und die Mutter und die beiden Kinder durch ihn oft physische und verbale Gewalt erlebten. Sie meinten, dass die beiden die Zeit nach der Schule regelmässig bei ihnen im Büro verbringen würden.
Später sah ich, wie sich Aishwarya, eine Mitarbeiterin der Mobilen Bibliothek, abends oft mit den beiden hinsetzte und ihnen bei den Hausaufgaben half, mit ihnen lernte oder bastelte.
Auch ich hatte das Glück, die beiden besser kennenlernen zu dürfen. Ich wohnte in einem der Gästezimmer im Bürogebäude und fand bald einen Draht zu ihnen. Sie besuchten mich regelmässig auf der Terrasse. Wir verbrachten viele Stunden damit, gemeinsam Freundschaftsbändeli zu knüpften, Englisch zu lernen, zu zeichnen und zu basteln und dabei tamilische Musik zu hören.
Pavithra berichtete mir oft stolz von ihren sehr guten Noten. Sie würde gerne Ärztin oder Pflegefachfrau werden, sagte sie. Indrakumar kam seinerseits immer wieder auf auffallend originelle und lustige kreative Ideen.
Eines Tages kam Pavithras Mama aufgeregt im Büro vorbei und verkündete stolz, Pavithra habe die Pubertät erreicht. Was soviel bedeutete wie: Sie hatte zum ersten Mal die Periode. Ich bekam mit, wie Madhan mit ihr ein angeregtes Gespräch führte.
Später erzählte er mir, dass viele Eltern für ihre Tochter aus finanziellen Gründen eine Hochzeit arrangieren, sobald sie zum ersten Mal bluten. Im Gespräch habe er ihr eindringlich nahegelegt, Pavithra nicht zu verheiraten, sondern ihr die Möglichkeit einer Ausbildung zu geben.
In den folgenden Tagen begleiteten mich diese Worte konstant. Ich suchte also das Gespräch mit Madhan und fragte, ob es irgendetwas gäbe, was ich zur Ausbildung der beiden beitragen könne. Ich sei gerne bereit, mein Bestmögliches zu tun.
Kurz vor meiner Abreise verkündete mir Madhan, er hätte Pavithra und Indrakumar auf die Liste des Ausbildungssupports aufgenommen. Die beiden würden somit die Chance auf eine Ausbildung und ein Leben mit mehr Selbstbestimmung haben. Eines von vielen Beispielen, wie Regenboog die Perspektiven von Menschen verbessert.